Mitternachtsspitzen – Ich möchte einmal das, was der da hat

»Ich möchte einmal das, was der da hat«, brülle ich den Barmann an und zeige auf den übergewichtigen Nerd am Rand der Tanzfläche. Sein breiter Scheitel glänzt vor Anstrengung. Fasziniert verfolgen meine Blicke, wie fleischige Arme Pirouetten in der Luft drehen. Seine übrigen Kilos ackern den Bewegungen hinterher. Spontan fällt mir dieser Wettbewerb ein, bei dem der hässlichste Tanz gekürt wird. Ob er für den übt, denke ich, oder issa einfach nur auf Droge? Nachdenklich nuckle ich an der Flasche Fritz-Cola, die seit zehn Minuten in meiner Hand klebt. Ich will meine Augen erholen und lenke mein Interesse auf zwei gut aussehende Typen in der Mitte der Tanzfläche. Schade, dass ich nicht auf Techno stehe und niemanden abschleppen will, geht es mir durch den Kopf, oder sollte ich das einfach mal ausblenden?

Es ist 4:00 Uhr morgens mitten in St. Pauli und wir sind angeblich in DEM Laden überhaupt. Ich bin ja nicht mehr so ganz auf dem Laufenden, was das heutzutage im Speziellen heißt, allerdings stand ich noch nie darauf, wenn Tanzen nicht das einzige ist, was man auf der Tanzfläche treibt. Gut, direkt damit verbundene körperliche Attacken sind schon erträglich. Doch ich scanne hier so ziemlich alles ab, was mein unterdrücktes ›let’s dance Herz‹ frustrieren lässt. Ein quatschendes Dreiergrüppchen in der Mitte des Geschehens mit Null Bewegungsdrang. Leute mit Jacken überm Arm oder auch an. Und jeder hält sich an einem Getränk fest.

Der heutige IN-Tänzer halt also mindestens ’ne Pulle Bier in der Hand. Die Damen wählen auch schon mal die gehobenere Variante in Form von Cocktailglas mit Strohhalm. Bei dieser Kür frieren die Oberkörper der Tänzerinnen optisch ein, sobald sie während des Zappelns Flüssigkeit zu sich nehmen. Sieht lustig aus. Jedenfalls, wenn man so stocknüchtern ist, wie ich. Die ganz harten Vertreter des weiblichen Geschlechts tragen dabei ihre Shopping Bags lässig über der Schulter. Bei den sportlicheren von ihnen darf es auch ein kleiner Rucksack sein. Ich wäre ja dann eher so die Rucksackausgabe, weil mir meine Tasche schon beim einfachen Laufen immer wieder von der Schulter rutscht, ganz ohne Trinken und Tanzen.

Der Techno-Beat grunzt unter meinen durchgestandenen Fußsohlen. Mein Mantel hängt lässig über meinem Arm. Ich sinniere gequält darüber nach, woher ich Shopping Bag oder Rucksack nehmen soll, ob ich mich für Bier oder Cocktail entscheide und überhaupt weiß ich noch nicht, wie man das eigentlich tanzt. Bei dem Gedanken an schwabblige Arm-Pirouetten und allen anderen Details zucke ich zusammen. Ob das überhaupt was für mich ist? Ich peile mit meinen Augen die beiden Typen an, die mir vorhin aufgefallen sind.

Plötzlich klaut mir der Nerd irgendetwas ganz Tolles pantomimisch von meinem Mantel und jongliert damit. Ist das die heutige Form vom Antanzen, überlege ich und kann meine Augen nicht sofort abwenden. Kennt ihr das? Man will nicht hinsehen und guckt trotzdem. Mein Antänzer folgt also mit diffusen Blicken meinem imaginären Schatz in der Luft und lädt mich telepathisch ein, ihm zu folgen. Ich habe keine Lust auf sein Spiel und versuche, gedanklich wegzulaufen. Natürlich ist es viel zu eng für panische Flucht und die Notausgänge sind für die vergleichsweise harmlose Katastrophenform sicher nicht vorgesehen.

Ich fange an, die Ungemütlichkeit des Dancefloors zu analysieren. Bierflaschen, Jacken, Shopping Bags, Rucksäche – sie alle tragen dazu bei und der Gipfel ist die quatschende Dreiergruppe in der Mitte. Der Caipirinhaspiegel, den ich bräuchte, um das alles zu ignorieren, ist nicht hoch genug, quasi gar nicht vorhanden. Ich nippe an der Cola und der Nerd legt mir demonstrativ mein Eigentum zurück auf die Jacke. Gott sei Dank, muss ich also keinen Diebstahl anzeigen.

Ich kraule verträumt meine zurück erhaltenen Goldkugeln und will mich zwingen, das Bahnhofshallen-Flair zu genießen, wegen der beiden Typen eben. Die sind echt süß. Finden sie selbst allerdings auch und fangen an, miteinander rumzumachen. Ja. Klar. Was auch sonst? Nicht von meinem Ufer. Ich freue mich für die beiden und schlagartig ist mir klar, dass ich den Exkurs schnellstmöglich abbrechen will. Ohne Bier, eigenen Schwulen und Rucksack oder Shopping Bag lohnt sich das hier einfach nicht für mich. Ich würde sowieso höchstens Mittelmaß abgeben für den hässlichsten Tanz »Oder ich krieg jetzt endlich das, was der da hat!«
Mitternachtsspitzen Techno jedichtet.de

Eine Antwort auf „Mitternachtsspitzen – Ich möchte einmal das, was der da hat“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert