let them live

Wenn’s nach mir ginge, dürften sich alle Steckdosen so lange im Dreck suhlen, bis das Futter kommt. Denn den Arzt bräuchten sie so kaum. Und sowieso braucht keine Sau Gitterstäbe und unbewegliches Sein zum Leben. Ich auch nicht. Leben sollten sie, wie ich, doch so gut es geht. Wo die Natur Schlamm vorgesehen hat, zum Beispiel, oder Schlemmereien. Schön wäre das, denke ich und schnipple die Zucchini klein. Dabei denke ich an die Sau, in deren Stall ich mal gefallen bin, als ich zwölf war.

Ich stand zum Strohballeneinstapeln am Ausguck über dem Schweinestall und meine Tante, bei der ich die Ferien in Neddemin, einem damals 300-Seelen-Nest nördlich von Neubrandenburg, verbrachte, warf mir die Ballen von der Ladefläche des LKW nach oben. Schön war das. Schöne freie Ferien. Gerade als ich wieder einen Ballen nach hinten auf den Heuboden schleppte, um ihn auf die bereits gestapelten Goldreihen zu legen, gab es einen ungeheuren Knall. Mehr ein Krachen. Meine Tante schrie und unter mir gab der Boden nach.
»Die Scheune stürzt ein! Bruno, komm doch bloß. Das Mädel ist da oben. Die Sau. Die Ferkel. Bruuuunooo!«

Ich verstand die Aufregung nicht. Glaubte gar nicht, was da geschah. Ich lag auf dem Rücken. Krallte mich an Stroh über und unter mir und fixierte die Seitenwände, die mir vorgaukelten, dass der Boden immer weiter nach unten absackte. Ich lag und rief, um meine Tante zu beruhigen, mir geht es gut. Nichts passiert. Aber der Schiss so weit unterhalb der Stelle, an der ich eben noch mit Wonne den Sommer auf der Haut kratzen gespürt hatte, war mir doch in die Glieder gefahren. Ich werde dann ganz ruhig. Wenn es so richtig brenzlig ist, schalten meine Systeme auf low budget (es sei denn, meine Kinder sind betroffen).

10671277_346423018872753_6568768326949667063_nUnter mir, ganz nah bei mir, säugte die Sau ihre Ferkel, die erst zwei Tage vorher auf die Welt gekommen waren. Ich dachte die ganze Zeit daran, dass Schweine ganz furchtbare Beißer sein sollen, weil sie sich festbeißen und nicht mehr loslassen. Das wollte ich auf keinen Fall. Aber sie lag da. Ganz ruhig. Die winzigen rosa Steckdosen nuckelten an ihr und sie grunzte zufrieden. Der gebrochene Balken hatte sie verfehlt. Und weil wohl die Panik meiner Tante für alle anwesenden Lebewesen ausreichte, verfielen die Sau, samt Ferkel und meine Wenigkeit nicht in die Selbe.

Und seit dem liebe ich Steckdosen. Auch wenn sie groß sind. Und ich hasse Bilder und die, die sie verursachen, von dermaßen würdelosem Umgang mit diesen großartigen Tieren. If you urgent have to eat pork, let them live before, PLEASE!!

 

 

ruhe bitte!

Die zweite Nacht in der sonst so ruhigen Seitenstraße, die ich durch Lärm von außerhalb nicht in gleichmäßigen Atemzügen genießen konnte. Nerv!

In der ersten rief es drei Mal „Ruhe!“ aus einem Fenster der Nachbarschaft. Doch die Leute unterhielten sich vor irgendeiner Eingangstür trotzdem weiter. Angeregt hallte jede Silbe von beiden Hausseiten zurück. Ich legte irgendwann mein Handy nah an mein Ohr und ließ mich in den Schlaf singen.

Letzte Nacht wieder. Andere Leute. Deutlich jüngere. In Feierlaune. Gegen eins, um zwei, dann wieder gegen halb vier. Zuletzt um sechs. Gelache. Flaschengeklimper. Gequatsche. Gepiepe. Gepiepe? Was um Himmelswillen ist das für ein nerviges Gepiepe, fragte ich mich und wog zwischen Aufstehen, freundlichem Hinausgehen und um Ruhe Bitten oder einem Anruf bei der Polizei ab. Völlig überzogen, aus jetziger Sicht, aber ich wollte einfach nur schlafen. Meine Augenringe gaben meinen Befindlichkeiten heute Morgen recht.

Eben ertönten die selben Stimmen wieder und ich sah hinaus, da die Jalousie hochgezogen mir die Sicht freigab und ich gerade auf meinem Lesesessel am Fenster hockte. Tatsächlich stand die Quelle meines Schlafmangels genau gegenüber. Zwei der Jungs mit Bierflaschen und Kippen in der Hand. Gackernd und sich dabei verbiegend. Der dritte verweilte nur mit Unterhose bekleidet und mit Wollmütze kopfbedeckt, gleichfalls laut lachend … und piepend!

Der nervende Ton kam von dem Fahrzeug unter ihm, einer Art Krankenfahrzeug. Ein elektrischer Rolli, nur irgendwie mehr wie ein Auto – Ob das der Grund war, dass niemand „Ruhe!“ rief vergangene Nacht?

naturverbunden

Der Junge drückt die Stirn gegen die Gitterstäbe. Arme und Beine ragen hindurch, als würden sie die Absperrung umarmen. Staubgrau sonnengebräunt. Während sein Kinn zwischen den nackten Knien verschwindet, geht sein Blick an den Füßen vorbei verloren.

Unter ihm flaniert der Sonntagnachmittag. Fasst sich an den Händen. Legt Arme um Hüften. Läuft Hunden hinterher. Er leckt an Eistüten und schreit aus Kinderhälsen. Der Sommer geht. Am letzten schönen Wochenende scheint jeder noch ein Stück von ihm abhaben zu wollen.

Der Junge kratzt über den abgesplitterten Lack des Geländers. Hinter ihm bewegen sich Gardinen. Wehen weit auf. In Bögen. Sie verfangen sich am Mauerwerk. Geschwängert von Zigarettenqualm und bar jeder Bleiche.

Ich schlendere auf der anderen Straßenseite vorbei und werde das Gesicht in meinem Kopf nicht los. Darin den Ausdruck eines, dem die Freude der anderen nichts anhaben kann. Keine Chance in der Luft, ihm die Leere zu vertreiben, denke ich und frage mich, welche Geschichte dahinter steckt. Ist er neu in der Stadt? Versteht er kein Wort von den lachenden Kindern unter ihm? Oder lebt er seit Jahren dort oben hinter den vergilbten Stoffblüten, die ihn vom Draußen trennen? Schützen sie ihn oder sehnt er sich danach, sein Gesicht in das letzte warme Gras des Jahres zu legen, Bälle zu kicken, um die Wette zu laufen? Und darf nicht?

BxchuThIAAEMsSlNichts will ich manchmal so sehr wissen, wie die Gründe für stumme Traurigkeit. Dabei ist es weniger die Geschichte dahinter, als das wilde Bedürfnis, das mich beim Anblick von Kindern und Tieren gleichermaßen überkommt, nämlich, sie unbändig toben und sich des Lebens freuend zu sehen.

© Jo Lenz, 07.09.2014

Woyzeck – 1. Voraufführung – Bericht

„Woyzeck“ – 1. Voraufführung vom 02.09.2014

Gerade zurück von einem kurzfristig durch Freunde angeregten Theaterbesuch im Berliner Ensemble. Brecht fiel leider aus. Stattdessen gab es spontan die 1. Voraufführung von Georg Büchners Woyzeck – http://www.berliner-ensemble.de/premieren – unter der Regie von Leander Haußmann.

Der erste Komplettdurchlauf war das heute Abend, von einer Geschichte, die ich nicht kannte. (Die Vorbesprechung ließ ich mir dummerweise wegen massiven Hungergefühls entgehen und knabberte vor der Tür ein Baguette) Ich saß ab 19:30 Uhr erstmal in der sechsten Reihe, gespannt auf das, was kommt.
Und es kam und erreichte mich gewaltig und im positiven Sinne schockierend ohne nennenswerte Patzer.

ACHTUNG SPOILERGEFAHR: Das Stück lebte sowohl von der Kraft seiner Darsteller, als auch von der gelungenen Erschaffung von Atmosphären, die teilweise filmisch bei mir für Fesselung sorgten, sei es durch Kampfszenen und ausgelassenes Feiern in Zeitlupe oder wunderbare Songs im Hintergrund.

Die Inszenierung brachte mich zwischendurch an Grenzen hinsichtlich Entsetzen und Erschütterung, wobei ich weniger an das blutverschmierende Drangsalieren des naiven Franz Woyzeck durch seine Kameraden denke, als vielmehr an das wiederkehrende Einmarschieren der Kompanie im Gleichschritt.

Stampfende Manneskraft, auf das Publikum gerichtete Gewehre, wirres Geschrei. (Und dann saß ich da und hoffte, dass kein Psychopath eine der Waffenattrappen ausgetauscht hat, um für eine Massaker-Schlagzeile zu sorgen) Dabei ging mir durch den Kopf, in wie vielen Ländern es diese Präsenz von Macht und Gewalt nicht auf Bühnen, sondern in den Straßen gibt. Vermutlich ein nicht ungewollter Effekt. Der Wahnsinn, den ein Krieg erschafft, war spürbar in starken Bildern. (Inklusive Folter, Medizinischen Versuchen, Gruppenurinieren auf Woyzeck (gefakt))

Teilweise wirkten Szenen auf mich, als befänden sich die Darsteller im Opiumrausch und halluzinierten die selben Bilder. Anders konnte ich mir manche Figuren, die völlig fehl am Platz zu sein schienen, nicht erklären.
Einer Halluzination gleich, mutete dann allerdings auch das lebendige Ross an, welches von Maria geritten freilich einen sündigen Anblick bescherte, aber ich bin kein Freund von Tieren unter Scheinwerfern und vor Publikum. Das hätte man anders lösen können. Im Stück selber wird gezeigt, wie. Mir hätte der Schattenwurf genügt (Dafür ein Punkt Abzug)

Ein langes Stück, aber nicht langatmig, was erstaunlich ist, da es häufig Szenen gab, die auf Wirkenlassen ausgelegt waren. Lag einer und litt, litt er anhaltend, auch das hat mich an gute Filme erinnert, in denen kein Dialog trägt, sondern nur das Auge bemüht wird. Oh, ja, natürlich gab es auch Liebe, durchweg durchzogen, für mich blieb es trotzdem am Rande.

Auf Links gedrehte Kleider, fehlende Handschuhe, ermüdete Muskeln, flüsternde Rufe vom Regisseur – das waren die winzigen von mir bemerkten Randerscheinungen dieser Rohfassung, und es war spannend dabei gewesen zu sein.

Fazit: Es wirkt nach. (Werde mir das Buch besorgen, um zu erkennen, was ich verstanden und richtig gedeutet habe) Applaus für die Darsteller, die körperlich viel geleistet haben, nicht nur im Stimmbandbereich. Applaus für die gesamte Technik für Musik und Spezialeffekte, Mitgefühl mit der Maske, die viel mit Säubern beschäftigt gewesen sein muss und ja, auch mit den Leuten, die den Siff auf der Bühne beseitigen und wieder aufbereiten werden. (Nach der Pause saß ich in der ersten Reihe und machte mir darüber meine Gedanken)

Und Chapeau dem Regisseur für das gelungene Darstellen von Krieg und Liebe im Wahnsinn Mensch!

Einen Stinkefinger für die Buhrufer am Ende habe ich auch noch. Nach 2 1/2 h härtestem Einsatz hat das niemand verdient!

© Jo Lenz (hat „noch“ keine Ahnung von Literatur, Theater, geschweige denn davon, wie man Kritiken schreibt, wollte/ musste trotzdem ihren Senf dazu geben.)