Alles Jetlag?

Erneut viel zu lange geschlafen. Mein Rhythmus ist noch nicht wieder MEZ geeicht. Doch heute ist der Tag, an dem die Zwillingseltern mit mir rechnen. Ich soll etwas eher kommen, damit wir noch das Organisatorische besprechen können. Sie warten seit über zwei Monaten auf meinen Einsatz. Das ehrt sie. Oder mich. Keine Ahnung. In meinem Kopf jedenfalls ist 14:30 Uhr abgespeichert.

Jetzt erstmal unter die Dusche, die zweite Waschmaschine starten – schnief – aber ja, es muss sein. Ankommen bedeutet auch, sämtliche Spuren aus der Kleidung zu waschen, die Städte, Menschen, Berge, Wüsten und Meere hinterlassen haben. Gut, dass sich so ein Herz und Erinnerungen nicht waschen lassen.

Ich beschließe, eine Bahn eher zu fahren, dann muss ich am Zielbahnhof keinen Bus für drei Stationen nehmen, sondern kann laufen. Tageskarte gekauft, denn im Anschluss an den ersten Job will ich mich im Prenzlauer Berg für einen zweiten bewerben. Wenig später stehe ich sehr entspannt im Türbereich der S1, als mich die Nachricht eines Bekannten erreicht, ob 21:00 Uhr am Abend für das Treffen okay ist. Ich stutze, ja ist denn heute schon Donnerstag? Im selben Moment überlege ich, ob der Vorstellungstermin in Prenzl’berg am Mittwoch, dann schon gestern war, als mich der Anruf des Zwillingsvater erreicht, der von mir wissen will, wie weit ich denn noch entfernt bin …

Dem Gefühl, einen schriftlich abgesprochenen Termin noch mal gegenzuchecken, sollte man – so er in den Morgenstunden auftaucht – ruhig nachgeben. Dann müsste man sich zum einen nicht zwischendurch wundern, wieso 14:15 Uhr Zeit zum Gespräch bietet, während man sonst ja schon ab 14:00 Uhr mit den Kindern zu Gange war, zum anderen müsste man nicht ins Schlingern geraten, um zu erklären, dass man ganz entspannt und total sicher viel zu früh dran sei, weil man eine Bahn eher nahm. Ich stottere also in das Kabel um meinen Hals, ob ich um Himmelswillen nicht etwa eine ganze Stunde zu spät dran wäre – immerhin hat der Vater über eine halbe Stunde gewartet, bis er mich anrief – ja, is aber so. Er hat lachend Verständnis, will wissen, wann ich eintreffe. Ich versichere, nicht zu laufen, sondern den Bus zu nehmen, und dann sollte es doch so kurz nach zwei … okay.

Während ich dem Bekannten schreiben will, dass ich gar nichts von heute Abend wusste, hält die Bahn. Steigen Leute an mir vorbei aus. Steigt eine Frau nah an mir vorbei aus. Und während sie so steigt, bleibt ihr Oberarm an meinem Handy hängen – und an mir hängt in nächster Sekunde nur noch die Freisprechanlage, während mein Handy fällt, den Steckkontakt freigibt, aus der Tür fällt und zwischen Bahnsteig und Schienen landet. Die Frau steht draußen. Entschuldigt sich. Ich sprachlos drinnen. Schließe den Mund.
„Ja kommen, Sie raus, Ihr Handy liegt da unten!“
Ich gucke immer noch blöd, sage auf ihre Entschuldigung hin, dass sie ja nichts dafür könne, wenn ich in der Bahn das Handy benutze und dass ich aber zur Arbeit müsse, und gucke hinunter auf das Gleisbett.
»Aber das ist doch ihr Handy!“
»Aber ich bin schon eine Stunde zu spät dran …“
»Aber ihr Handyyyy! Sie können doch die nächste Bahn nehmen!“
Ich kapiere, dass sie recht hat, und bevor die Türen sich schließen, folge ich ihrer Aufforderung und verlasse die Bahn.

Wir halten uns kurz an den Händen. Ich bin etwas flattrig. Die Bahn fährt davon.
„Sie können doch einen Mitarbeiter fragen, ob der Ihnen das von den Gleisen …“
„Ach was!“, sage ich, „bleiben Sie mal kurz bei meiner Handtasche …“
„Natürlich.“
Ich springe hinunter – wollte ich bestimmt schon immer mal machen – angle nach dem Handy, das unversehrt ist – ich habe lediglich den Rückruf eines Freundes verpasst – und schwinge mich dann rücklings, wie beim Swimmingpool in New Orleans, wieder den Bahnsteig hinauf, was so ohne Wasser und Sonnenöl an den Händen wesentlich einfacher geht.

Handy in der Hand, bedanke ich mich fürs Warten und frage nach dem Namen der Frau, die sich zum vierten Mal für ihr Missgeschick entschuldigen will. Wir wünschen uns einen schönen Tag. Dann geht sie, und ich warte auf die nächste S1. Zuerst will ich ein Taxi nehmen, aber da ich die Adresse der Familie nach acht Wochen nicht mehr weiß und es mir peinlich ist, nachzufragen – ich weiß nur den Weg ab Bahnhof Zehlendorf – rufe ich an, um mein weiteres Verspäten zu erklären. Die Mailbox:
„Ja, ich weiß, das klingt jetzt bescheuert. Aber mir hat jemand mein Handy aus der Hand gerissen und ich musste am Bahnsteig Feuerbachstraße aussteigen und auf die Gleise springen, um es zurückzubekommen und nun warte ich auf die nächste Bahn. Ich weiß, wie blöd sich das anhört, aber das ist so doof, dass es keine Ausrede sein kann. Also bis dann.“

Der Nachmittag bei den Kindern verläuft ohne Zwischenfälle. Gegen 17:00 Uhr löst mich die Mutter ab – jetzt wäre noch genug Zeit, um bis 18:30 Uhr beim Vorstellungsgespräch in der Stargarder Straße zu sein – aber wir verquatsche uns. Erst 20 Minuten später verlasse ich das Haus und aktiviere auf dem Weg zum Bus die VBB App, um mir den schnellsten Weg zum nächsten Termin anzeigen zu lassen …

Das tolle an der App ist, dass sie die zuletzt gesuchten Ziele speichert, also finde ich in der Liste die richtige Straße – ich war neulich schon mal zum Vorkosten dort – und lasse mir die Verbindung anzeigen. Es wird knapp. 1 Bus. 2 U-Bahnen. 1 Tram. Fußweg. Ich schreibe, dass es wohl ein paar Minuten später wird.
Der Bus kommt. Ich steige ein und an der richtigen Haltestelle wieder aus. Flitze über die Straße zur U-Bahn und erwische sie. Bei der nächsten Umsteigestelle erwische ich sogar eine Bahn eher als geplant, so dass ich ja vielleicht doch noch pünktlich erscheine. Die hält jedoch an einer der nächsten Stationen an – und bleibt auf unbestimmte Zeit stehen. Obwohl ein vierjähriges Kind immer wieder sagt, „Zurückbleibenbitte!“, fährt die nicht wieder los. Ich schreibe, dass ich feststecke und nun gar nichts über meine Eintreffenuhrzeit weiß.

Etwa zwanzig Minuten nach dem Termin verlasse ich die Tram. Sehe mich um. Und erkenne überhaupt nicht wieder, wo entlang ich nun laufen muss. Aber ich erkenne etwas anderes wieder, nämlich, dass ich zu der Straße gefahren bin, in der ich ein paar Tage vorher meinen Koffer abgeholt habe, den Anne aus den Staaten mit rüber gebracht hatte. Strassmannstraße. In dem Moment, als ich das erkenne, erreicht mich eine Nachricht von meinem Vorstellungstermin, wie lange ich denn noch bräuchte, denn er müsse langsam los zum Einkaufen … wir telefonieren, ich erkläre kurz mein Missgeschick und schlage vor, den Termin zu verschieben. Dabei denke ich mir, dass ich an der Stelle von Eltern und Geschäftsinhaber auf meine Mitarbeit verzichten würde und frage mich, wie ich in der Lage gewesen bin, mich auf den Straßen der USA acht Wochen allein zu organisieren und nie eine Sache zu verpassen. Der Inhaber reagiert jedoch entspannt – ich solle einfach in den nächsten Tagen mal vorbeikommen, wenn es mir passt …

Ich hocke mich in das Wartehäuschen. Das nicht verbrauchte aktivierte Adrenalin der letzten Stunde katapultiert mich in bad moode. Neue Nachricht: Der Bekannte will sich immer noch treffen. Mir ist das jedoch alles zu viel. Ich sage ab. Fahre heim. Kaufe mir eine Flasche Rotwein, Baguette und Kürbisaufstrich. Verziehe mich in meine vier Wände und frage mich mit jedem Glas, ob das alles noch der jetlag ist.

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