Eine kleine Silvestergeschichte

Zwei Tage vor Silvester erreichte mich ein Brief. Neben guten Wünschen für das neue Jahr, enthielt er eine Einladung, einen Zugfahrschein, eine Wegbeschreibung und einen rostigen Hausschlüssel. Schrift und Absender waren mir unbekannt.
Ein Freund, stand darunter.
Ich habe keine Freunde, dachte ich im ersten Moment, und drehte und wendete den Inhalt des gepolsterten Umschlags.


Dann legte ich ihn zur Seite, und fütterte meinen Wellensittich. Ich gab Jockel einen Hirsekolben und frisches Wasser, und beobachtete anschließend, wie er sein Spiegelbild mit Hirsebreierbrochenem zu füttern versuchte.
Jockel, du bist eine noch traurigere Existenz als ich, sprach ich, und dann erzählte ich ihm von der seltsamen Postsendung.
Jockel rülpste leise, bevor er mich mitleidig ansah.
Ich halte die Stellung hier, krächzte er nach einer Kunstpause, fahr du ruhig. Du wolltest doch schon immer mal Zug fahren. Ist mir unerklärlich wieso. Aber das ist sicher so ein Menschending, nicht wahr?
Naja, ich habe ja an Silvester eh nichts weiter vor …
… außer im Selbstmitleid zu baden, krächzte Jockel meinen Satz zu Ende.
Pff, machte ich, und warf ihm das Schlaftuch über den Käfig.
Er protestierte lautstark, da der Tag gerade erst begonnen hatte. Insgeheim musste ich ihm leider Recht geben. Alles würde ich vermutlich besser finden, als in der großen Stadt alleine und vergessen Mitternacht zu verschlafen, und mich am nächsten Tag hundeelend deswegen zu fühlen. Zwei Tage später packte ich kurzerhand ein paar Sachen zusammen, teilte Jockel meinen Entschluss mit, und machte mich auf den Weg. Natürlich gab ich vorher meinen Hausschlüssel nebst einigen Hirsekolben dem mürrischen Herrn Übermir, von dem ich wusste, dass er Vögel mag …

Als mich am Abend, 600 km entfernt von Jockel, ein Taxi vor dem kleinen alten Haus ausspuckt und in einem Affenzahn wieder davon fährt, wird mir schlagartig klar, dass ich mutterseelenallein im Nirgendwo gelandet bin. Der Zweifler in mir versetzt mir auch sofort einen Kinnhaken. Aber statt mich auf eine Diskussion einzulassen, ignoriere ich ihn und vergleiche stattdessen die Adresse der Einladung mit dem Schild der im Dunkel liegenden Straßenkreuzung und mit der rostigen Hausnummer, die schief neben der Tür hängt und schon fast aus der Verankerung fällt. Ich scheine richtig zu sein. Ich gehe ein paar Schritte auf die Treppe zu und stelle meine Tasche auf die erste der sechs Stufen.
Kalt ist es hier, rede ich zu mir selbst, wie ich es immer tue, wenn ich der aufkommenden Angst ein Schnippchen schlagen will. Diese Tatsache wird mir sofort bewusst. Jetzt seid ihr schon wieder zu zweit, rede ich weiter, das ist unfair! Angst und Zweifel, wer braucht euch?!
Ich vermisse Jockel. Der würde jetzt das richtige sagen, damit ich mich besser fühle. Der Gedanke an ihn hilft, und ich atme tief durch. Um Entspannung bemüht, sehe ich mich um. Auf ein paar Pfützen schimmert Eis. Weit und breit steht kein weiteres Haus. Da sind nur die beiden sich kreuzenden Straßen. Felder. Dahinter Wald. In der Ferne liegen Hügelketten wie schlafende Riesen, gewärmt von Wolkendecken, hinter denen der Mond sich mit Licht voll frisst. Mir knurrt der Magen.
Dann mustere ich die Vorderseite des Hauses. Hinter den Fenstern schreit die Stille der Nacht. Im Baum neben dem Haus schreit ein Nachtvogel. Und in mir schreit vor Schreck mein Entsetzen kurz und schrill darüber auf, dass ich mich tolldumm darauf eingelassen habe, Jockel an Silvester allein zu lassen. Doch es ist, wie es ist, würde der jetzt sagen, und so gehe ich die Stufen bis zur Tür hinauf, den rostigen Schlüssel in der Hand. Im Mondlicht erkenne ich letzte Farbreste, die sich als blassgraue Schuppen an das versilberte Eichenholz des Türblatts klammern. Der Schlüssel passt. Er lässt sich leichter drehen, als gedacht. Beim Öffnen fallen einige der Farbschuppen zu Boden. Die Scharniere in der Zarge knarzen wie zum Protest. Trotzdem trete ich ein, denn mir ist schlicht arschkalt. Ich taste nach dem Lichtschalter. Klick. Klack. Kein Licht. Gekrame nach dem Feuerzeug in meiner Handtasche …

Ich stehe in der Küche. Das letzte Blatt des Jahres hängt am Abreißkalender neben dem Fenster. Die Flammen der drei Kerzen, die ich gefunden und angezündet habe, werfen tanzende Schatten auf die sonst schmucklose Steinwand, vor der ein einfacher Tisch steht. Ich fühle mich zurück versetzt in meine Kindheit. Wenn wir meine Bilderbuchoma auf dem Land besuchten, fand ich mich in einer ähnlichen Küche wieder. Der gleiche Küchentisch. Der gleiche Abreißkalender, dessen rückseitige Sprüche ich stets laut vorlesen durfte. Die Seele dieser Küche hier scheint allein die Feuerstelle zu sein, über der ein vom Ruß geschwärzter Kessel hängt. Die Seele ihrer Küche war der Kachelofen, auf dessen Bank ich mich im Winter zum Aufwärmen setzte und den zuckenden Schwanz der schlafenden Katze berührte. Die Seele war ihre Kochkunst, ihr Lachen, ihr vor Freude durchs Haus hüpfen, das Ticken der Küchenuhr. Meine Oma ist gefühlt nie richtig alt gewesen, und bestimmt war sie niemals einsam.
Ich wickle meine Jacke fester um mich. Unter dem schmiedeeisernen Kessel liegen ein paar Holzscheite. In dem Baumstumpf daneben steckt eine Axt. Einen Stuhl oder weitere Möbel gibt es nicht. Auch nicht in dem Raum nebenan. Das Haus ist leer. Wirkt trostlos und verlassen. Einsam. Es wirkt so viel einsamer, als ich mich jemals gefühlt habe. Auf einmal ist mir, als hörte ich es wimmern. Ich spüre sein Zittern. Und fast fühle ich so etwas wie Mitleid. War eben noch der Gedanke in mir, mich schnellstens wieder aus dem Staub zu machen, nehme ich nun eine der Kerzen und hocke mich vor die Feuerstelle.

Nach ein paar Minuten brennt der erste Scheit. Er strahlt Wärme ab. Das Knistern hallt von den Wänden zurück. Ich schließe die Augen und lausche der Musik des Holzfeuers. Dann ziehe ich die Axt aus dem Stumpf, ziehe den Tisch von der Wand zum Feuer hin und setze mich. Ich habe Brot dabei und will im Schubfach des Tisches nach einem Messer suchen. Doch der einzige Gegenstand, der darin liegt, ist ein Würfel. Ein alter Spielwürfel, dessen Elfenbeinfarbe schwarz versunkene kleine Krater umgibt. Während ich notgedrungen meine Zähne in den Brotlaib presse, denn ich muss endlich meinen Hunger stillen, überlege ich, welche Spiele mit nur einem Würfel auskommen, und ich frage mich, welches wohl das letzte Spiel war, in dem dieser Würfel noch rollen durfte. Er musste seit Jahren unberührt dort gelegen haben. Als ich ihn zum genauen Betrachten auf meine Handfläche lege, spüre ich ein leichtes Vibrieren und erschrecke. Doch da er weder glühend heiß wird, noch einen Stachel in meine Handmulde bohren will, schleudere ich ihn nicht im hohen Bogen gegen die Wand, sondern lege meine andere Hand schützend über ihn. Danach halte ich mein Ohr an die so entstandene kleine Höhle.
Wenn es vibriert, muss doch auch ein Ton zu hören sein, denke ich und schließe konzentriert die Augen. Und tatsächlich: Die Stimme eines Lichtjahre entfernten Windspiels wispert sich in die Schnecke meines Gehörganges. Vorsichtig hebe ich meine Hand leicht an und stelle entzückt fest, dass er begonnen hat zu leuchten. Plötzlich durchsichtig geworden blinken winzige farbige Lichter in ihm auf, und ein Regenbogenlichtkegel schmiegt sich an meine Handflächen. Fast sieht es so aus, als verberge der zuvor unscheinbare Spielwürfel einen eigenen leuchtenden Kosmos in sich. Fasziniert starre ich ihn an, und stelle mir vor, wie eine ganze Wagenladung dieser Würfel die Nacht erhellen muss. In den Nachrichten sprächen sie vom Jahrhundert-Stau, schlecht gelaunten Menschen, die in der Dunkelheit der Nacht auf Autobahnen feststecken und frieren. Wenn nun zwischen ihnen ein LKW eine derartige Ladung verlöre, wären auf Anhieb alle schlechten Gefühle und Gedanken vergessen. So muss es einfach sein. Ich merke ja, was er mit mir macht. Ich sehe ihn leuchten und weiß plötzlich, dass ich alles schaffen kann. Ich fühle mich gestärkt. Ermutigt. In Gesellschaft. In Gesellschaft eines kleinen Universums voller Licht und blinkender Freude, das mir Kraft und Zuversicht spendet. Das praktische auf der Autobahn wäre, dass die Ladung schneller von der Straße käme, als es ein Räumdienst schaffen könnte. Jedes kleine Würfelglück hätte eine zu ihm gehörige Hosentasche gefunden, eine dankbare Hand, oder den Platz in einer Handtasche. Allen wäre sonnenklar, dass es genau so sein soll. Allein der Absender der geheimnisvollen Wagenladung und des Briefes bliebe für immer ein Geheimnis…

Ich erwache neben der Glut. Mein Kopf liegt auf der Reisetasche. Neben mir liegt das angebissene Stück Brot. In meiner Hand halte ich den Würfel. Er hat aufgehört zu leuchten. Trotzdem lege ich ihn nicht zurück ins Schubfach, sondern stecke ihn ein. Ich habe Mitternacht verschlafen. Alles, wie immer. Und nichts, wie immer. Ich stehe am Fenster und sehe zu den schlafenden Riesen, hinter denen feuerrot das neue Jahr von der Sonne begrüßt wird. Mir fällt der Kalender ein, und ich reiße das überfällige Blatt mit der Einunddreißig ab. Als ich den Spruch lese, spüre ich, wie mein Mund sich zum Lachen verzieht. Ich stelle den Tisch zurück und rufe mir ein Taxi…

Jockel, ab jetzt wird alles anders.
Machen wir die Nacht zum Tag?
Nein, wir holen uns eine Katze.
Bist du jeck?
Nein, ich habe ein Zitat von Kästner gelesen…

An meiner Pinnwand hängt ein vergilbtes Stück Papier. Eine einzige Zeile steht darauf. Eine einzige Aufforderung, die ich mir zum Slogan für das neue Jahr mache. Für alle neuen Jahre, die noch kommen werden.

LASST EUCH DIE KINDHEIT NICHT AUSTREIBEN! (Erich Kästner)

In diesem Sinne, rutscht gut rein! Besiegt eure Teufel. Feiert kleine Wunder und glaubt an große. Nehmt leichter, was euch drücken will. Hüpft vor Freude. Streichelt Katzen. Lasst euch die Nase putzen, wenn Tränen und Schnodder euch zu ertränken drohen. Spielt Würfelspiele… und findet euren eigenen kleinen Kosmos voll leuchtendem Glück, der in der Hosentasche Platz hat. Und, nein, ich meine damit kein Handy 😉

Licht & Liebe, eure Jo.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert